Desintegration

Was bedeutet Desintegration?

Desintegration ist eine Haltung, eine Forderung, ein Spiegel, ein Synonym für Mündigkeit. Die Desintegration stellt eine Gegenposition zum häufig beschönigten deutschen Selbstverständnis in Integrationsdebatten dar. Nach diesem Selbstverständnis gibt es eine deutsche Leitkultur, an die sich alle Mitbürger*innen zu halten und anzupassen haben. Mit der Desintegration möchte man dieses Selbstverständnis kritisch hinterfragen und eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem Thema Integration fördern, mit dem Ziel ein zeitgemäßes gesellschaftliches Miteinander anzustreben – doch was hat das mit der Kolonialzeit zu tun?


Wir alle stehen vor der Geschichte

In der landläufigen Überzeugung ist die Kolonialzeit mit der Unabhängigkeit der meisten kolonialisierten Staaten beendet worden. Vor allem die deutsche Kolonialgeschichte wird selten bis gar nicht thematisiert. Dass die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, auf denen die Kolonialisierung fußte, bis heute wirkmächtig sind, scheint vergessen. Und dass unsere gegenwärtige Welt- und Wirtschaftsordnung eng mit der Kolonialzeit verknüpft ist, wird viel zu selten einer Betrachtung unterzogen. Doch gerade im Integrationsdiskurs spielen die Auswirkung der Kolonialzeit und das mit dieser Epoche noch mehr verfestigte rassistische System eine entscheidende Rolle.

Konrad-Adenauer-Denkmal in der Kölner Innenstadt. Desintegration.
Konrad-Adenauer-Denkmal in der Innenstadt, Köln.

Die Kontinuitäten von Rassismus und Gewalt

Ohne Thematisierung der gegenwärtigen Macht- und Repräsentationsverhältnisse und deren Dekonstruktion können gleiche Rechte für alle nicht realisiert werden. Ein zentrales Ziel ist es rassismusfördernde Handlungs- und Denkmuster, die unbewusst reproduziert werden, zu thematisieren und kritisch einzuordnen. Beispielsweise werden in Deutschland noch heute Unterstützer und Repräsentanten des kolonialen Unterdrückungs- und Ausbeutungssystems anhand von Denkmälern oder Straßenbezeichnungen heroisiert. Dabei ist auf verschiedene Ansätze zum Umgang mit diesen kolonialen Erinnerungsorten hinzuweisen.

Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in der lokalen Gestaltung von Diversität die globalen Verflechtungen, die die Grundlage für Rassismus bilden, nicht umfassend betrachtet werden.

Rückgabe der Benin Bronzen und Umbenennung der M. Straße, Demo vor dem RJM in Köln.

Dekolonialisiert die Integration

Wird heute von „Integration“ gesprochen, werden die aufgezeigten historischen Zusammenhänge und deren Wirkmächtigkeit auf unsere Gegenwart ungenügend bis gar nicht betrachtet.  Postkoloniale Ansätze sind deswegen umso wichtiger für die Diskussion um Zusammenleben in einer globalisierten Welt.  Die Konstruktion von “Wir” und “den Anderen”, die das Integrationsdogma „Sie müssen sich integrieren!“ prägt, können nur durch das Hinterfragen der eurozentrischen Denkmuster dekonstruiert werden – und so der Vielfalt unserer Welt gerechter werden. 

Diesen Aspekt wollen wir mit unserem Projekt herausstellen.

Um den Integrationsdiskurs um diesen Blickwinkel zu erweitern, organisieren Migrafrica VJAAD e.V. und der Integrationshaus e.V. seit zwei Jahren Projekte mit unterschiedlicher Ausrichtung, um für das Thema Öffentlichkeit zu schaffen, (und) Methoden für die Vermittlung zu entwickeln und zu diskutieren. Mehr Informationen zum Projekt „Rassimuskritische Perspektive bei der Organisation von Veranstaltungen“ haben wir in der Broschüre zusammengestellt.


Deutsche Kolonialzeit

In Deutschland endeten die kolonialen Ansprüche auf besetzte Übersee-Gebiete mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags im Jahre 1919. Als Beweis dienten insbesondere Aussagen von Bewohner*innen der Kolonien, die Großbritannien im „Blaubuch“ von 1918 dokumentiert hatte. Bereits damals begründeten die Imperialstaaten die Abtretung der deutschen Ansprüche damit, dass unter der deutschen Kolonialherrschaft die einheimische Bevölkerung durch Vernichtungskriege und in Form von Zwangsarbeit systematisch unterdrückt und ausgebeutet wurde.

Zwar wurden die kolonialen Ansprüche Deutschlands auf dem Papier beendet, jedoch endeten damit keineswegs die Fremdherrschaften auf den von Deutschland besetzten Kolonialgebieten, denn die Imperialstaaten sprachen den ehemaligen deutschen Kolonien die Fähigkeit ab, sich selbst verwalten zu können. So hoben sie deren Selbstbestimmungsrecht auf unbestimmte Zeit auf und behielten die Fremdverwaltung bei. Zudem wurden die kolonialen Bestrebungen Deutschlands in Politik, Wirtschaft und in seinen Denkweisen nicht eingestellt. Vielmehr kam man im deutschen Diskurs zu dem Schluss, dass der „koloniale Zivilisationsauftrag“ gescheitert sei, welcher zum Ziel hatte „rückständige“ Kolonien nach dem Vorbild europäischer Kulturnationen zu entwickeln. In der Weimarer Regierungspolitik war die Rückgewinnung von Kolonien ein zentraler Agendapunkt, der lediglich von USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) abgelehnt wurde.

Unabhängigkeit von den Imperialstaaten. Heute wird die deutsche Kolonialgeschichte selten bis gar nicht thematisiert. Dass die Unterdrückung und Ausbeutung auf denen die Kolonialisierung fußte, bis heute wirkmächtig sind, scheint vergessen. Zudem werden die gegenwärtigen Verknüpfungen der Welt- und Wirtschaftsordnung mit der Kolonialzeit selten einer Betrachtung unterzogen. Auch fast 100 Jahre später sind die Auswirkungen der Kolonialzeit, deren Bestrebungen mit der Verbreitung von rassistischen Vorurteilen legitimiert wurden, gegenwärtig und spielen im europäischen/ deutschen Integrationsdiskurs eine entscheidende Rolle. Zu den Kontinuitäten und Zusammenhängen hat Serge Palasie dieses Einführungsvideo aufgenommen: