Die Dekolonisierung in den Köpfen vieler Menschen in Deutschland ist noch nicht abgeschlossen. Ein Beispiel: Das Entfernen oder Umwidmen historisch belasteter Kolonialdenkmäler oder Straßennamen gestaltet sich bis heute trotz aller Fortschritte zäh. Die weltweiten Proteste nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd haben auch in Deutschland die Diskussion um Rassismus und das koloniale Erbe befeuert.
Bundesweit haben Postkolonial-Initiativen und -Vereine nun möglicherweise mehr Gehör und Einfluss als jemals zuvor, um den weiteren Umgang mit belasteten Denkmälern und Straßennamen zu diskutieren. Ein konkreter Vorschlag: 2019 verstarb der Afrodeutsche Theodor Wonja Michael 94-jährig in Köln. Dieser Mann, der unter anderem den Spiegelbestseller „Deutsch sein und Schwarz dazu“ schrieb, überlebte den Nationalsozialismus und setzte sich bis zu seinem Tod für ein Deutschland ein, das Hautfarbenhierarchien endlich überwindet. Es stehe schließlich nicht im Grundgesetz, wie ein Deutscher auszusehen habe, so Michael in der Deutsche Welle-Produktion „Afro.Deutschland“. In ganz Deutschland gibt es Straßen und Plätze, die einen neuen Namen gebrauchen könnten. Eine Theodor-Wonja-Michael-Straße beispielsweise im Kölner „Afrika-Viertel“ im Stadtteil Nippes wäre eine gute Weiterführung eines Prozesses der Umwidmung belasteter Orte zugunsten Schwarzer Deutscher (und zugunsten von Vertreter*innen anderer marginalisierter Gruppen). Das würde zeigen, dass Deutschland begriffen hat, dass viele Schwarze Menschen schon längst Deutsche sind.
Deutschland, das nicht zuletzt aufgrund demografischer Entwicklungen immer weniger eine weiße Gesellschaft ist, braucht eine neue Identitätenpolitik, die der nicht erst seit gestern komplexer werdenden Realität gerecht wird. Ein Mittel, um die konstruierten Identitäten auf allen Seiten zu dekonstruieren, ist eine gezieltere und möglichst frühe Auseinandersetzung mit der dafür relevanten Geschichte. Wenn scheinbar Naturgegebenes zunehmend als politisch bzw. ökonomisch motivierte Konstruktion enttarnt wird, ist schon viel erreicht auf dem Weg in eine Gesellschaft, die all ihre Potentiale nutzt und mit der sich immer mehr Menschen identifizieren können. Die braucht es nicht zuletzt aufgrund globaler Herausforderungen, die wir immer weniger nach Hautfarben und Nationalitäten sortiert lösen können. Wenn Rassismus als koloniales Erbe Partizipation und einen unvoreingenommenen Umgang miteinander in Deutschland noch immer behindert, wäre es doch sehr naiv zu glauben, dass man gegenüber dem Globalen Süden auf ehrlicher Augenhöhe begegnen kann. Der innergesellschaftliche Wandel ist also auch eine wichtige Voraussetzung für einen globalen Wandel.